Platz für ein Monster

Guten Tag, wo befinden wir uns gerade?

Hier ist die alte Oder. Der Bullergraben, so wird er auch genannt. Am Bullergraben mündet das schwarze Loch. Das schwarze Loch beherbergt ein Ungeheuer, das sogenannte braune Monster. Ich selbst habe schon versucht es zu fangen und mir ging es so wie vielen anderen Anglern. Das ist ein großer Wels, der eine braune Färbung hat. Er nimmt den Köder in dem etwa vier Meter tiefen Loch und geht dann in den Strom. Wenn er einmal in dem Strom ist, dann zerschlägt er alles. Alle Angeln brechen. Selbst die erfahrensten Angler haben ihre Angeln verloren. Es geht dann hier die Strömung runter, da ist ne kleine Stromschnelle und wenn er da einmal ist, ist nichts mehr zu machen. Es geht seit Jahren so. Eins, zwei Angler werden auch schon vermisst und man weiß wirklich nicht, ob man hier noch angeln soll.
Wie alt kann denn dieser Wels sein?
Na der muss zwei Meter haben und dann isser bestimmt fünf-zehn, zwanzig Jahre. Ja, er hat ne ganz narbige Haut, das konnt ich sehen. Erinnert so ein bisschen an den Wal von Ahab. Aber er ist nicht zu kriegen.
Also wird er gefährlich, wenn er mit der Strömung an Schnelligkeit gewinnt? Denn ich würde mal sagen, so ist es wahrscheinlich ein ziemlich träges Vieh...
Nein, das darf man nicht unterschätzen. Der Wels hat ne gewaltige Kraft und kann ganz schnell zuschnappen, wenn er ein Opfer sieht. Er frühstückt hier ja auch Enten und sowas. Dann gibts ein großes Platschen und der Vogel ist verschwunden.
Aber gibts auch wirkliche Beweise für dieses braune Ungeheuer oder sind das nur Erzählungen?
Das sind natürlich Erzählungen, aber es gibt zerbrochene Angelruten und Geschichten, die alle den gleichen Kern haben. Das heißt, da ist was dran.
Und warum heißt das schwarze Loch das schwarze Loch?
Ja, weil es hier verschiedene Geheimnisse gibt, die noch alle nicht ganz geklärt sind. Teilweise wird behauptet, man würde den Grund nicht finden und es wäre so tief, dass es nur noch schwarz ist unten. Ja, ein schöner Ort, aber nicht ganz ungefährlich.

Und denken Sie, dass das braune Ungeheuer entsorgt werden sollte oder ist es OK, dass es hier lebt?
Hier kann es leben. Es ist eins der letzten Gewässer, wo die Natur ihren Lauf nimmt. Dadurch, dass die Seiten stark zugewachsen sind, ist es teilweise wie im Dschungel und da ist auch Platz für so´n Monster.
29.03.2022, Interview mit A. vom lokalen Angelverein
Zu kurze Beine
Das Dorf ist kein richtiges Dorf, sondern ein Gemeindeteil. Hier leben 28 Menschen. Bewegt man sich nach Norden aus dem Gemeindeteil heraus, so befindet sich unter der erstens erwähnenswerten Markierung auf Google-Maps eine Seniorenbetreuung mit der Spezialisierung auf Demenztherapie durch Hunde. Bewegt man sich südlich aus dem Gemeindeteil heraus, so befindet sich unter der ersten erwähnenswerten Markierung auf Google-Maps ein Service für die Beförderung von Tieren im Flugzeug.
In diesem Gemeindeteil lebt Ursta Maulig mit seiner Hündin „Frau Wolf“. Vor ein paar Jahren hatte sich Ursta einen Hund gewünscht, der genau so aussehen sollte wie Frau Wolf – eben wölfisch. Eines Tages, als er gerade mit dem Auto nach Hause fuhr, sah er ein seltsames Häufchen auf dem Acker kauern. Er schaltete den Motor ab, parkte sein Auto an der Seite, ging zu der Stelle und sah, dass dort ein
Hund lag. Nach einer Weile öffnete er die Tür seines Lieferwagens und Frau Wolf sprang einfach hinein. Seit dem lebt sie bei Ursta. Niemand weiß, warum das alles passierte, doch Ursta ist sich sicher, dass es so etwas wie morphogenetische Felder geben muss.
Manchmal kommt der Nachbar von schräg gegenüber vorbei und sagt, er hätte Wolfsspuren bei sich im Garten entdeckt. Ursta weiß, dass es die Pfotenabdrücke von Frau Wolf sind, sagt aber nichts.
Von Urstas Wohnzimmer aus lassen sich Überwachungskameras, die er am Dach seines Hauses angebracht hat, mit einem Joystick hin und her bewegen. So kann man auf einem Bildschirm betrachten, was um das Grundstück herum geschieht. Meist passiert nicht viel und ab und an muss Ursta die Kameras von Spinnweben befreien. Dann klettert er an einem Seil hinauf.
Ein Körbchen mit Käse

Ein sechsjähriger Junge lebt mit seiner Familie auf einem abgelegenen Hof. Ringsherum nur Ackerland und Holunderbäume. Nicht weit entfernt, hinter den Bahngleisen, steht das alte Heizwerk, ein verlassenes Areal, in dem der Junge gerne spielen geht und Buden baut. Hier soll jetzt auch ein Wolf leben, hat der Jäger aus dem Dorf erzählt. Gesehen hat ihn zwar noch niemand, doch die Jagtkamera des Jägers hat Beweisfotos gemacht.
Eines Morgens liest die Mutter des Jungen aus der Zeitung vor, dass von nun an 80 Wölfe pro Jahr in Brandenburg abgeschossen werden dürfen.
Es wäre doch besser,  die 80 Wölfe auf dem Hof zu verstecken, als sie sterben zu lassen, denkt sich der Junge. Zumindest der Wolf aus dem Heizwerk sollte beschützt werden.
So baut er zusammen mit einem Freund an dem Abend vor der Vollmondnacht eine Falle aus rotem Schrott, einem langen Seil und einem Körbchen mit Käse als Köder. Rot: das verwirrt die Wölfe, weiß er aus einer Doku über die Lappjagt. Mit der Funk-Spionage-Kamera eines ferngesteuerten Playmobilautos und der Jagdkamera seines Großvaters wird die Falle überwacht.
"Während wir schlafen, ziehen Wölfe um die Häuser" ist eine Spurensuche zwischen ausgetrockneten Sümpfen, angenagten Symbolen, Gartenzäunen und verlassenen Fabriken aus DDR-Zeiten – eine fotografische Ansammlung von Geschichten über Menschen, die in eine fiktive Beziehung zu Wölfen treten, sowie Orte, die vom Wolf berührt wurden oder vom Menschen als " vom Wolf berührt" wahrgenommen werden.
Der Wolf als Grenzgänger zwischen Fiction und Science, Natur und Zivilisation, Gut und Böse wird dabei nicht zum Pro oder Kontra. Vielmehr geht es um Verstrickungen aus Projektionen, Ängsten, den Dimensionen der Vorstellungskraft und die dadurch erzeugte Erfahrung. Wie sehe ich meine Welt? Sehe ich, was du (nicht) siehst? Welche Realität erschaffe ich mir? Wie wird Raum angeeignet – emotional, zeitlich und physisch?
Alle Fotografien sind im ländlichen Osten von Brandenburg entstanden, das Bundesland mit den meisten Wolfsterritorien in Deutschland – die Gegend, in der ich aufgewachsen bin.

_ engl.

"While we sleep, wolves roam around the houses" is a search for clues between dry swamps, gnawed symbols, garden fences and abandoned factories from GDR times - a photo-graphic collection of stories about people who enter into a fictional relationship with wolves, as well as places that have been touched by the wolf or are perceived by humans as "touched by the wolf".

The wolf as a border crosser between fiction and science, nature and civilisation, good and evil does not become a pro or a contra. Rather, it is about entanglements of projections, fears, the dimensions of imagination and the experience generated by it. How do I see my world? Do I see what you (don't) see?
What reality am I creating for myself? How is space appropri-ated – emotionally, temporally and physically?

All of the photographs were taken in rural eastern Brandenburg, the state with the most wolf territories in Germany - the area where I grew up.


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